IMG 2053Im Rahmen der bundesweiten Veranstaltungen zum Jubiläumsjahr 1700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland hatten die Schülerinnen und Schüler der Hebräisch-Kurse am Ceciliengymnasium am Dienstag, 24.08.2021, die Gelegenheit, einen Vortrag zum Thema „Singt Gott ein neues Lied: Die Bedeutung der Musik für das Judentum“ zu hören. Referent war Isidoro Abramowicz, Kantor der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Am Mittwoch, 25.08.2021, gab es dann als musikalische Ergänzung ein Konzert in der Bielefelder Synagoge, das der Kantor zusammen mit dem Organisten Dr. Jakub Stefek (Szczezin/Polen) gestaltete.

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Eröffnet wurde die Veranstaltung am Dienstagabend von Irith Michelsohn, Vorstand der Jüdischen Kultusgemeinde Bielefeld. Dr. h. c. Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen stimmte Hine, ma tow umanaim („Siehe, wie fein und lieblich ist‘s, wenn Brüder [und Schwestern] einträchtig beieinander wohnen!“, Ps 133) an. Mit nachdenklichen Überlegungen und Fragen ging sie auf das jüdisch-christliche Verhältnis ein. Auch Oberbürgermeister Pit Clausen und Superintendent Christian Bald waren gekommen.

Isidor Abramowicz, geboren in Buenos Aires, Argentinien, ist Kantor der Jüdischen Gemeinde zu Berlin (Synagoge Pestalozzistraße). Darüber hinaus leitet er die Kantorenausbildung am Abraham-Geiger-Kolleg an der Universität Potsdam. Sein Vortrag startete mit dem „Lied des Meeres“, dem Lied des Mose, und dem Mirjam-Lied – den Liedern, die sie nach dem Zug durch das Schilfmeer sangen (Ex 15). Die Zuhörerinnen und Zuhörer wurden auf eine Reise der dokumentierten jüdischen Musik mitgenommen, weiter anschaulich wurde der Vortrag durch Bildmaterial und gelegentliche Gesangseinlagen des Kantors. Es wurde nicht nur auf die offengebliebenen Fragen der aktuellen Forschungen auf diesem Gebiet eingegangen, auch wichtige Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert sowie wichtige Personen (z. B. Amalia Beer) kamen nicht zu kurz. Auch näherte er sich der Frage, was jüdische Musik denn überhaupt sei. Nach dem Vortrag blieb noch genügend Zeit, um Fragen an Abramowicz zu stellen. Abramowicz beendete die Veranstaltung mit einem gesungenen Segen. 

Beim Konzert am Mittwochabend standen Werke von Louis Lewandowski (1821 - 1894), dessen zweihundertster Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird, im Mittelpunkt. Außerdem wurden Kompositionen von Arnold Ludwig Mendelssohn (1855 - 1933), Leon Kornitzer (1875 - 1947), Arno Nadel (1878 - 1943) und Salomon Sulzer (1804 - 1890) aufgeführt.

Um die Bedeutung dieser Musik für die Erneuerung des liturgischen Gesangs in deutschen Synagogen zu verstehen, ist ein kurzer Rückblick notwendig. Bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Texte der Tora, der Gebete und Segnungen nach tradierten Melodien gesungen, die nicht schriftlich in Noten festgelegt waren, sondern durch mündliche Überlieferungen weitergegeben wurden. Die in dem Konzert zu Gehör gebrachten Werke sind künstlerische Weiterentwicklungen der Musik im Stil der Romantik. Allerdings konnte sich diese Musik nur in Metropolen wie Berlin, Wien und Hamburg in liberalen Gemeinden durchsetzen. Auch darin mag ein Grund liegen, warum viele dieser Werke bis heute innerhalb und besonders außerhalb der jüdischen Gemeinden noch relativ unbekannt sind.

Den Auftakt machten zwei Praeludien für Orgel von Lewandowski, ergänzt durch liturgische Gesänge. Stefek wählte dafür zarte Flötenregister, die einen ruhigen, fast meditativen Einstieg in den Abend boten. Es handelte sich um Betrachtungen zu den hohen jüdischen Feiertagen Rosch Haschana (Neujahr) und Yom Kippur (Versöhnungstag), die neben dem Rückblick auf das vergangene Jahr Veranlassung zur Reflexion über eigenes Handeln und zum Nachdenken über die wesentlichen Dinge des Lebens erlauben. Im Gegensatz dazu wurden die Gesänge Lewandowskis von Kantor Abramowicz sehr expressiv und dramatisch vorgetragen. Besonders das Lied Haschkiwenu (Geleite uns in Frieden zur Ruhe) zeigte eine besonders intensive Wirkung auf das Publikum. Mit starker Stimme trug der Kantor das Lied Adonaj Schomrecho (Der Ewige ist dein Hüter) vor und konnte somit eine tiefe Sehnsucht und Zuversicht ausstrahlen.

Von Mendelssohn hatte Stefek die bekannte Melodie des Kol Nidre ausgewählt, die durch eine Bearbeitung von Max Bruch einem größeren Hörerkreis bekannt gemacht wurde. Der Gesang „Ruth spricht“ von Leon Kornitzer sprach die Schülerinnen und Schüler des Hebräisch-Kurses besonders an, weil das Buch Ruth in diesem Semester ein Thema des Unterrichts bei Christian Fabritz ist.

Den Bogen zum Anfang spannte das Gebet V’schomru zur Heiligung des Schabbats des vielseitigen Berliner Kantors Arno Nagel, der 1943 mit seiner Frau in Auschwitz ermordet wurde. Abramowicz gestaltete diesen Gesang besonders ausdrucksstark. Den Abschluss bildete dann der Segen des österreichischen Komponisten und Schubert-Freundes Salomon Sulzer, mit dem das offizielle Programm ausklang. Die Begeisterung der Zuhörer erwirkte allerdings noch eine Zugabe: den Aaronitischen Segen in hebräischer Sprache, vertont von Louis Lewandowski.

Besonders beeindruckend waren die Kraft und Klarheit der Stimme von Isidoro Abramowicz und seine authentische Gestaltungsfähigkeit der gesungenen Texte. Die Botschaft der Gebete, Segnungen, Psalmen und Verse aus Büchern der Tora gestaltete er so überzeugend, dass die enge Verbindung von Text und Musik im Sinne der Komponisten emotional nachvollzogen werden konnte. Während häufig die Orgel in der Synagoge nur die Harmonien des Sängers unterstützt, konnte Jakub Stefek in seinen Solostücken auch die liturgische Bedeutung der Orgel in den Synagogen der liberalen Gemeinden zum Ausdruck bringen.

Insgesamt war das Konzert ein Höhepunkt innerhalb der Veranstaltungen zum Jubiläumsjahr in Bielefeld.